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10. Januar 2005. Nachrichten: Natur & Umwelt - Sri Lanka Hikkaduwa wurde zur Geisterstadt

Eine Fahrt auf der Küstenstraße A-2 von Sri Lankas Hauptstadt in das Katastrophengebiet im Süden

Als wir kurz nach der Tsunami-Katastrophe, der allein in Sri Lanka weit über 30000 Menschen zum Opfer fielen, mit dem Auto von Colombo nach Hikkaduwa im Süden fahren, scheint uns das Meer verhöhnen zu wollen. Es zeigt sich von seiner besten Seite – friedvoll, sanft, unschuldig. Fast behutsam rollen die Wellen auf den Strand. Vielleicht will die See damit nur sagen: 'Verzeihung, was kann ich dafür? Das Beben tief im Leib des Planeten hat mich zu dieser schrecklichen Reaktion gezwungen.'

Von der Küstenstraße A-2, auch Galle Road genannt, weil sie von Colombo über gut 100 Kilometer gen Süden nach Galle führt, wie auch von der parallel dazu verlaufenden Eisenbahnlinie sieht man die See nahezu ständig. Das mag in normalen Zeiten für Reisende ein reizvoller Anblick sein. Doch dieser Tage stechen Zerstörung, Verwüstung und Chaos ins Auge. Bisher trug die lange umkämpfte A-9 nach Jaffna, quer durchs tamilische Kriegsgebiet, den Beinamen "Todesstraße". Den macht ihr nun die A-2 streitig. Schon ein paar Kilometer außerhalb Colombos wird sichtbar, was die Flutwellen angerichtet haben. Rechter Hand, direkt am Strand, die Ruinen nur noch zu erahnender Hotels, Pensionen und Hütten, zu bizarren Knäueln geformte Fischerboote, auf die Mole und bis auf die A-2 geworfene Kutter, riesige Mengen "Strandgut", das meistens nicht aus dem Meer stammt, sondern aus den Häusern an der Straße. Überraschend haben viele schlanke Palmen der Wucht der Wogen widerstanden.

Die "Seeinvasion" hat nichts verschont

Links der Straße erstreckt sich eine endlos scheinende Zone der Verwüstung. In Kalatura, wo das Asphaltband die Eisenbahnlinie kreuzt, zeigen sich verbogene Schienenstränge, umgestürzte Signalanlagen und ein Bahnhof, der nach einem Bombardement kaum schlimmer aussehen könnte. Aus dem Chaos ragt eine Jesus-Statue auf hohem Sockel, unversehrt.

In der Nähe von Bentota hat die Tsunamiflut die Mündung des Nilwala-Flusses so verändert, dass ein beträchtlicher Rückstau entstanden ist. Noch kommen wir gut voran, weil Schutt, Trümmer, Sand, Strandgut, umgestürzte und zerquetschte Autos bereits von der Fahrbahn und schwere Fischkutter aus dem Wege geräumt wurden. Die mächtige Wasserwand hat nichts verschont. Auf einem Friedhof bilden Grabsteine ein wüstes Durcheinander, als habe eine Riesenhand mit ihnen gewürfelt. Die Wogen haben selbst Lkw und Busse zermangelt und hunderte Meter ins Landesinnere geschleudert.

Der Schienenstrang ist vielerorts als solcher gar nicht mehr erkennbar, der Bahndamm weggerissen, der Gleiskörper unter Müll und Trümmern verschüttet. Brücken führen ins Nichts. Gleise hängen verdreht und gefaltet in der Luft.

Die Menschen sind in panischem Entsetzen geflohen, harren immer noch fassungslos und lethargisch bei Verwandten im Landesinnern aus, um die getöteten Verwandten trauernd und hoffend, dass ein Wunder geschieht und ihnen Heim, Hab und Gut wiedergibt. Die Nation nimmt Anteil an den Toten der "Seeinvasion", wie man hier die Katastrophe nennt – mit weißen Fähnchen an Autos und Bussen, Motorrädern und Rikschas, an Häusern, Mauern und Zäunen. Weiß ist im überwiegend buddhistischen Sri Lanka die Farbe des Friedens, aber auch der Trauer und des Todes.

Bei Ambalangoda, rund 77 Kilometer von Colombo entfernt, ist die A-2 noch blockiert. Lange Schlangen an den Tankstellen zeigen, dass man vorsichtshalber nochmal tanken will, ehe die Fahrt ins Ungewisse beginnt. Die etwa 20 Kilometer lange Umleitung geht über Batapola, weg von der See, deren Spuren uns noch etwa einen Kilometer begleiten. Dann beginnt eine andere Welt mit saftig- grünen Reisfeldern, Bananenstauden und idyllischen Ortschaften. Hier nimmt der Alltag seinen Lauf, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen.

In niederschmetterndem Kontrast empfängt uns Hikkaduwa, eine "Geisterstadt" ohne Einwohner. Nur Polizei und Soldaten patrouillieren. Viele Läden, sofern die Gebäude noch stehen, sind "offen" – ohne Fenster und Türen: der Haarsalon "Lemonde", der "Power Kingdom Sports Club", der Sudaani- Juwelier, das Dimasha-Restaurant, das Postamt, die Arrack Bar, Schneiderstuben und Tischlerwerkstätten. Bevor die Sicherheitsleute kamen, hatten Räuber schon weitgehend "reinen Tisch" gemacht.

Die A-2 endet hier. Bis ins 20 Kilometer entfernt gelegene Galle ist sie so zerstört, dass es noch Tage dauern wird, bis darauf wenigstens wieder Busse verkehren können.

Um 9.30 Uhr blieb die Uhr stehen

Wir glaubten bis hierher, eine plastische Vorstellung davon erhalten zu haben, was Tsunami bedeutet. Doch eine halbe Stunde später müssen wir uns belehren lassen. Welche zerstörerische, tödliche Energie in diesem Naturphänomen steckt, begreifen wir erst am Ort des Zugunglücks zwischen den Ortschaften Peralya und Telawatte, wo mehr als 1500 Menschen ihr Leben verloren.

30 Meter vom Schienenstrang entfernt liegt die 80 Tonnen schwere Diesellok auf der Seite. Ihre Doppelachsenfahrgestelle sind abgerissen und haben sich wie Raketengeschosse in den Boden gewühlt. Die neun je 30 Tonnen schweren Waggons bäumen sich fast senkrecht hoch, liegen auf dem Dach oder auf der Seite. An ihren Untergestellen haben sich Saris, Dhotis, Gardinen und Hausrat verfangen. Urgewalt hat den Gleiskörper an verschiedenen Stellen "umgedreht": Die Schwellen liegen oben, die Schienen unten. Um die Waggons verstreut sehen wir Habseligkeiten der Passagiere: hier eine Brille mit Etui, dort ein Stück Seife, eine Taschenlampe, Koffer und Taschen, Schulbücher, Schuhe, Sandalen, Kleidungsstücke – und zahlreiche leere Brieftaschen und Portemonnaies.

Von Peralya und Telawatte blieben Trümmerhaufen, einzelne Häuserwände, ein zwischen zwei Bäumen eingeklemmtes Sofa, ein um einen Stamm gewickelter Blechschrank, ein Gasherd, Möbel, ein Fernsehgehäuse, Spielzeug, eine lachende Mickey-Maus-Puppe, Fischernetze, ein Stromzähler, ein zerquetschter Pkw, zertrümmerte Fischerboote, ein Teekessel, ein Bügeleisen, Matratzen, ein Traktor mit den Rädern nach oben, eine Wanduhr, deren Zeiger auf 9.30 Uhr stehen, dem Zeitpunkt der Tsunami-Katastrophe. In einem Palmenwipfel flattern ein Paar Jeans und ein türkisfarbener Sari mit goldener Borte.

Unter einer Hausruine heult jämmerlich ein eingeschlossener Hund. Aber dafür haben die freiwilligen Helfer vorläufig kein Ohr. Sie graben immer noch Tote aus und tragen sie zu einer Sammelstelle, wo versucht wird, sie zu identifizieren. Verwesungsgeruch an der Unglücksstätte weist darauf hin, dass diese Arbeit noch lange nicht beendet werden kann. Zudem wurden bereits 150 Tote, die das Meer mit sich gerissen hatte, wieder an Land gespült.

Auf dem feuchten Erdboden sehen wir ein Album. Auf der Hülle steht "Our home coming" (Unsere Heimkehr). Es zeigt Fotos der Hochzeit Chamila Chandanie Wickramasinghes und Gallage Keerthi Lanka Gunaratnes am 10. Mai 1998. Nachforschungen bei Nachbarn des Paares, die in den Trümmern ihres Hauses nach Verwertbarem suchen, bleiben ohne Erfolg. "Ja, wir kennen sie. Aber was aus ihnen geworden ist, wissen wir nicht", sagt Surangar Dharmapale. Wahrscheinlich ist, dass es auch für Chandanie und Keerthi, wie für hunderte andere Einwohner der beiden Ortschaften, kein "home coming" mehr geben wird.

Eisenbahner und überlebende Dorfbewohner berichten, was hier an jenem Sonntag geschah. Bei den Sri Lanka Railways trägt der Zug die Nummer 50. Er war von Trincomalee an der Ostküste über Colombo unterwegs ins fast am Südkap gelegene Matara. Gleich hinter Hikkaduwa erhielt er das Haltesignal, weil der Tsunami an der Ostküste bereits gewütet hatte und die Bahnbehörde annahm, der Zug sei in dem von Palmen gesäumten Abschnitt etwa 300 Meter vom Strand entfernt am besten geschützt. Drei Tsunami-Wogen hielt "Nr. 50" stand. Viele Dorfbewohner waren zu den Waggons gewatet und auf deren Dächer gestiegen. Sie ahnten nicht, dass sie in eine Todesfalle gerieten. Die vierte, wohl zehn Meter hohe Welle brachte den Tod. Sie sprengte die Waggons auseinander, wirbelte sie herum und schleuderte sie in verschiedene Richtungen bis in eine Entfernung von 70 Metern vom Gleis. Sie zermalmte alles auf ihrem Wege. Die wenigsten der etwa 1500 Fahrgäste und Dörfler hatten eine Chance. Sie ertranken, wurden eingeklemmt, zerquetscht. Wohl weniger als hundert kamen mit dem Leben davon.

Zuversicht inmitten von Trümmern

Mitten in den Aufräumarbeiten zeigen sich die Eisenbahningenieure M.J.D. Fernando und H.L.R. Fonseka zuversichtlich, in ein paar Tagen das Chaos bewältigt zu haben, auch wenn sie in einer besonders komplizierten Lage sind, weil sie hier nicht Kräne, Hilfszüge und anderes Spezialgerät der Eisenbahn einsetzen können. Ingenieur Fernando glaubt, seine Leute würden die gesamte Strecke an der Westküste in zwei bis drei Monaten wieder befahrbar machen, wenn das erforderliche Geld bereitgestellt wird.

Aber nicht nur die Eisenbahn erlitt schwere Schäden. 70 Prozent der Fischereiflotte sind zerschmettert, mindestens 130 Schulen müssen neu aufgebaut oder repariert werden und der überwiegende Teil der 160 Kilometer langen A-2 ist zerstört oder schwer beschädigt. "Wir müssen abwarten, welche Prioritäten die Regierung setzt", sagt Ingenieur Fernando. Ohne umfassende internationale Hilfe – diese Gewissheit gibt uns die Fahrt auf der Küstenstraße – wird Sri Lanka schwerlich wieder auf die Beine kommen.

Quelle: Die Reportage erschien am 5. Januar 2005 in der Tageszeitung "Neues Deutschland".

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Der Tsunami im Indischen Ozean .

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