Inhalt

08. Februar 2008. Analysen: Weltweit - Geschichte & Religion Auf Missionskurs

Die Tablighi Jemaat al-Dawa aus Nordindien in Südthailand

Für die neuen Prediger des Islams ist der größte Verdienst die Mission und die erfolgreiche Trimmung anderer Muslime auf die radikale Frömmigkeit. Selbst die Gewalt in Südthailand kann sie nicht aufhalten.

Die 1927 von Maulana Mohammad Ilyas gegründete Missionsbewegung Tablighi Jemaat (im Folgenden TJ genannt) ahmt die utopische Gesellschaft von Medina in einer weltweiten Gemeinschaft der Gläubigen nach und ähnelt konservativen Sufi-Bruderschaften, die ihre Netzwerke entlang eigener islamischer Zentren um die ganze Welt spannen: Die TJ war von Beginn an mit den Deobandi Sufi-Bruderschaften und dem Deoband Seminar verzahnt, in dem Muslime aus aller Welt studieren. In zahlreichen Deoband-Hochschulen ist die Mission in den Reisegruppen der TJ zum festen Bestandteil der Ausbildung geworden. Sie zeigen ihre Machtfülle über die performative Darstellung in Massentreffen (ijtima), die in Pakistan und Bangladesch Millionen Teilnehmer anziehen. Der historische Hintergrund ist besonders wichtig für das Selbstverständnis dieser translokalen und transnationalen Missionsbewegung, die als Reaktion auf eine hinduistische Mission Arya Samaj unweit von Delhi entstand. In der so genannten Shuddhi-Kampagne hatte der Arya Samaj versucht, die Seelen der niedrigkastigen Meo-Ureinwohner in der nordindischen ländlichen Provinz Mewat durch spirituelle Reinigung (shuddhi) vom Islam zum Hinduismus über aggressive Mission zurückzugewinnen.

Die Reisegesellschaften

Mohammad Ilyas befürchtete, der hinduistischen Mission zu erliegen. Ilyas war der Meinung, dass die Muslime nur oberflächlich dem Namen nach Muslime seien und jegliche Art von Götzen verehrten. Für ihn lag der Schlüssel zum Erfolg in Einübung von Gottesfurcht und Gottesnähe, die durch Frömmigkeit und strenge Einhaltung der Gebote und des Regelwerks der TJ in der Mission erreicht wird. Die Gründer haben rituelle Elemente wie das Singen von zikhr, die Erinnerung an Gott, von den mystischen Sufi-Orden entliehen, allerdings stark verkürzt und in der Ausübung streng reglementiert, um ein Abgleiten in Ekstase und Versenkung zu verhindern. Die bekehrten Muslime haben ein Erweckungserlebnis und betrachten sich als neugeborene Muslime, die ihre alten Laster abgelegt und den Weg von Dekadenz und Verschwendung in ein asketisches Leben gefunden haben. Die große Innovation von Ilyas war die Ausbildung von Reisepredigern, die zunächst innerhalb Indiens und später in andere muslimische Regionen Indiens entsendet wurden. Diese Reisegesellschaften werden als Jemaat bezeichnet; Jemaat wird mit Gemeinschaft übersetzt, Tabligh mit Verkünden bzw. Mission. Die TJ entsenden heute ihre Reisegruppen in die gesamte islamische Welt sowie in viele Länder Europas, in denen Muslime in der Diaspora leben (Masud 2000; Metcalf 2002). Die TJ beanspruchen eine Revitalisierung der islamischen Gesellschaft von Medina und versuchen, die Erinnerung an den Propheten (nabi) Mohammad in den Körper der Pilger einzuschreiben, indem die Züchtigung der Gläubigen nicht zuletzt auf den Körper zielt.

Die TJ nimmt eine Umwertung von Diesseits und Jenseits vor. Das Jetzt ist in der Ideologie der TJ vergänglich und unbedeutend im Vergleich zur Unendlichkeit und Süße des Paradieses, auf dessen Vorbereitung das jetzige Leben allein ausgerichtet ist: Muslime sind gehalten, Verdienstpunkte zu sammeln, um die Chance auf einen Platz im Paradies zu wahren. Das größte Verdienst ist dabei die Mission und die erfolgreiche Trimmung anderer Muslime auf die radikale Frömmigkeit der TJ. Daher steht Routine zu Aufbau und Festigung des Glaubens und die Mission in der Form der Reise im Zentrum der Aktivitäten. Über die Sozialisation in das Regelwerk der TJ sowie durch die Frömmigkeit sozialisiert die "große Familie" ihre neu aufgenommenen Schäfchen und bindet sie in die Mission ein. Die Anhänger werden nach dem Freitagsgebet im Zentrum (markaz) der TJ ermutigt, sich für eine Reise zu melden, wenn ihre Namen nach dem Freitagsgebet im Zentrum aufgerufen werden. Die Pilger sind gehalten, in einer fremden Gesellschaft außerhalb ihrer eigenen zu missionieren, da nach Meinung von Ilyas zu viele persönliche Bindungen die Mission beeinträchtigen. Ein bestimmter Grad der Fremdheit zu den Missionierten ist also gewollt.

Diese Methode bedeutet einen radikalen Bruch mit der Reproduktion sozialer Beziehungen in der Lokalgesellschaft, die auf verwandtschaftlichen Beziehungen basiert. Sie bedeutet für die Missionare die Erduldung von Beschimpfungen durch nicht missionswillige Muslime und die Einübung neuer sozialer Beziehungen in der translokalen Gemeinschaft, wobei die neuen Beziehungen entweder mit den bestehenden verwandtschaftlichen Beziehungen verbunden oder aber mit den bestehenden Beziehungen gebrochen wird, um sich ganz der neuen Aufgabe zu widmen.

Die Führung der TJ liegt fest in den Händen der Nachkommen der Gründerfamilie in Indien und in Pakistan. Die symbolische, aber auch physische Besetzung des Raums steht auf vielerlei Wiese im Mittelpunkt der Expansionsstrategie. Die TJ führen eine Serie fest definierter Rituale ein, die zu einer systematischen Erweiterung nicht nur des Raums, sondern auch der Zeit führen, da Vergangenheit und Zukunft erfolgreich zusammengeführt werden (Metcalf 1996: 123f.). Die Führer der TJ verbringen einen Großteil ihrer alltäglichen Zeit mit der Bewegung. Durch die Zirkulation der Jemaat in der ganzen Welt sowie durch die systematische Wiederholung bestimmter Rituale während der Mission wird der Raum symbolisch abgesteckt und gewissermaßen angeeignet und entlang der Ideen der TJ islamisiert. Die Teilnehmer der TJ sind leicht als solche identifizierbar, denn sie tragen im Alltag arabische Kleidung, lassen sich lange Bärte wachsen, die sie mit Henna färben, schminken ihre Augenbrauen schwarz und parfümieren sich. Im Gespräch mit einem Ladeninhaber in Patani wechselten er und sein Sohn zunächst die Kleidung, um sich im anschließenden Gespräch als reine und authentische Mitglieder zu präsentieren. Besonders wichtig für die Inszenierung der TJ ist der Zug einer Reisegruppe entlang einer Straße, der leicht für Äußere erkennbar ist.

Weder Panzerfahrzeuge noch anderes Kriegsgerät beeindruckt die TJ

Während der Mission gehen die Teilnehmer im Idealfall wie Bettelmönche zu Fuß. Wo das nicht möglich ist, reisen sie auch mit anderen Transportmitteln. Sie gehen in einer Reihe, der Führer (Amir) einer Gruppe zuerst. Interessanterweise kann selbst die Gewalt in Pattani und die Militärsperren die Mitglieder der TJ nicht aufhalten. Im Gegenteil: Jeden Freitag strömen die Mitglieder der malaiischen Grenzprovinzen zu Tausenden in den großen markaz (Malaiisch: markaz besar) in Yala, um Jemaat aus Südasien zu treffen und um gemeinsam zu beten. Inmitten eines Bürgerkriegs sieht man immer wieder Gruppen frommer Mitglieder der Jemaat, die Straßen auf- und abwandern und sich weder von Panzerfahrzeugen noch von anderem Kriegsgerät beeindrucken lassen.

Die Tablighi Jemaat übernehmen in zahlreichen Dörfern die Kontrolle über den Raum der Moschee, auch wenn die Moschee formell unter der Kontrolle Bangkoks registriert ist. Die jungen Führer der Bewegung haben die traditionellen Moscheevorsteher verdrängt, führen den Gebetsruf selbst aus, gehen in die Häuser, um Muslime zum Gebet einzuladen, wachen über die Sauberkeit. Mindestens eine Person ist ständig in der Moschee präsent, um sie zu bewachen. Die jungen Führer der TJ setzen damit ein grundlegendes Gebot der ländlichen Gesellschaft außer Kraft, der natürliche Respekt vor den Älteren. Anstelle der Erfahrung tritt nun die Entschlossenheit in der Bewegung.

Die TJ bricht nicht nur mit den Altershierarchien in der traditionellen Gesellschaft, sie krempelt nicht nur die Gebets- und Ritualkultur in der Moschee um, sie stellt nicht nur bestehende Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen in Frage, sondern verändert vor allem auch die Geschlechterverhältnisse einschneidend. Die TJ sind eine patriarchalische Bewegung, die Frauen am liebsten in der Küche und in der Kindererziehung sehen. Die reisenden Männer lassen die Mütter manchmal über sechs Monate allein zurück. Aber Frauen haben trotzdem einige gute Gründe, sich für die Ideologie der TJ zu begeistern. Erstens profitieren Frauen von den Verdienstpunkten, indem sie ihren Männern die Reise ermöglichen. Zweitens knüpfen die Frauen genauso wie die Männer Beziehungen in translokalen und transnationalen Netzwerken und der Raum erweitert sich für jene Frauen, die sowieso in der Küche stehen, erheblich. Drittens fallen in der asketischen Ausrichtung der TJ die belastenden, wachsenden Ritualausgaben weg und im Idealfall verschwenden die Ehemänner ihr Geld nicht mehr mit ihrer maskulinen Spielsucht. Manche Frauen gewinnen der Verschleierung sogar erotische Züge ab, da die Männer ja neugierig bleiben, was unter dem Schleier zu finden ist. So sind die Frauen nicht immer den Blicken der Männer ausgeliefert. Diese Gründe bewegen aber nicht alle Frauen dazu, sich der schnell wachsenden Bewegung anzuschließen, nicht zuletzt, da die Frauen in der ländlichen Gesellschaft Südthailands nicht nur im Bereich des Hauses und der Familie, sondern auch im Bereich des Rituals eher dominant sind und ihnen dieser Raum in den transnationalen Süd-Süd Netzwerken der TJ genommen werden.

Die offensichtlichste Besetzung des Raums ist das Treffen aller Mitglieder zu den Massentreffen. Zu diesem Zweck reisen die Muslime Südthailands nach Bangkok, wo die Massentreffen jährlich abgehalten werden. Hierzu werden charismatische Sheyks eingeladen, die weithin als Führer anerkannt sind und wie Heilige behandelt werden. Die TJ glauben, dass allein ihre Anwesenheit und ihre gezeigte Frömmigkeit Wohltaten bringen und die Menschen freudig stimmen. Die TJ sind zugleich rückwärtsgewandt und supermodern. Die Verwendung moderner Medien wird zwar abgelehnt, aber die Netzwerke werden durch Mailgroups und Chatforen unterstützt.

Die Auflösung sozialer Beziehungen von Muslimen und Buddhisten in multi-konfessionellen Siedlungen

Die politische Brisanz einer nach eigener Aussage unpolitischen Bewegung liegt nicht nur in der schieren Zahl ihrer Mitglieder oder in den sozialen Kämpfen um die Kontrolle des islamischen Feldes, sondern auch in ihrem Beitrag an der Auflösung sozialer Beziehungen von Muslimen und Buddhisten in multi-konfessionellen Siedlungen Südthailands und in der Unvereinbarkeit der neuen Ideologie mit der Kosmologie der traditionellen muslimischen Gesellschaft und ihren Beziehungen mit den Ahnengeistern. Die Verankerung der TJ in der Lokalgesellschaft ist mit großen politischen Spannungen verbunden, da die Autoritätsstrukturen der translokalen Graswurzelbewegung die Grundfesten der traditionellen Austauschsysteme erschüttern. In den grundlegenden Festen und Ritualen der traditionellen Gesellschaft werden die sozialen Beziehungen im Haus und zwischen den Häusern – genauso wie die Beziehung zu den Seelen der Toten – reproduziert und erneuert und eine Segnung Gottes wird durch den rituellen Tausch von Gaben erbeten. Mit Beginn der Mitgliedschaft in der TJ wird jedes Ritual nach den Leitlinien der TJ geprüft und es wird von den Führern der TJ Druck ausgeübt, die Beteiligung an synkretistischen Traditionen zu beenden. Für die Muslime in Südthailand ist es aber unerträglich, die Toten nach dem Begräbnis nicht mehr auf dem Weg zum Himmel begleiten zu können, zudem muss befürchtet werden, dass sie von den Geistern heimgesucht werden, die ungebändigt in den Häusern umherirren oder in die Körper fahren. Es ist nicht so, dass die Ideologie der TJ die lokalen Ideen restlos ersetzt hätte, sondern globale Ideologie und autochthone Kosmologie bestehen nebeneinander fort.

Der politische Kontext – insbesondere der amerikanische "war on terror" und der aufkommende Anti-Amerikanismus im Süden Thailands und in der ganzen islamischen Welt – hat diese Problematik der Islamisierung der Lokalgesellschaft noch verschärft. Die neue Präsenz der TJ wirkt sich negativ auf die muslimisch-buddhistischen Beziehungen aus, da sie mit dem für die autochthone Religion so wichtigen Ahnenkult bricht, der die gemeinsame Referenz der muslimisch-buddhistischen Nachbarschaften war und interkonfessionelle Heirat zwischen Buddhisten und Muslimen ermöglichte. Im translokalen Raum der Gemeinschaft der TJ wird die Lebenswelt der buddhistischen Mehrheit durch die Versenkung der Mitglieder in die eigenständigen und selbstisolierten Praktiken der TJ unsichtbar. Es ist so, als ob es gar keine Buddhisten gäbe, da die ganze Konzentration dem neuen Islam gilt. In einer fremden, nicht-islamischen Umgebung wird der öffentliche Raum ein eigener, von der Lokalgesellschaft abgetrennter, quasi universeller Raum, der durch das routinemäßige Wiederholen islamischer Rituale sakralisiert wird. Es findet also eine Verwandlung eines lokalen Raums in einen universellen Raum statt.

Ohne die fehlende Unterstützung aus Südasien würde die Bewegung sicher schnell an Einfluss verlieren. Diese Abnahme ist aber nicht abzusehen und so ist die TJ die mit Abstand einflussreichste Dawa-Bewegung in Südthailand.

 

 

(Der Beitrag ist Bestandteil der in einer Kooperation des Südasien-Informationsnetz mit der südostasien-Informationsstelle am Asienhaus Essen erschienen Ausgabe der Zeitschrift südostasien 4/2007)

Dieser Beitrag gehört zum Schwerpunkt: Südasien und Südostasien .

Kommentare

Als registriertes Mitglied können Sie einen Kommentar zu diesem Beitrag verfassen.